Marcus Watta
Marcus Watta ist ein vielgehörter Gitarrist, der auf über 100 Musikproduktionen vertreten ist. Er ist vor allen Dingen ein Autor von Liedern, die auf ungewöhnliche Weise Gott zu betrachten suchen.
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VON FRAGEN UND AUSBLEIBENDEN ANTWORTEN
(ERF-Artikel von Marcus Watta / Ausgabe September 2022)
«Gott ist gut – mehr weiss ich nicht»
(ERF-Artikel von Marcus Watta / Ausgabe September 2022)
«Gott ist gut – mehr weiss ich nicht»
Es liegt wohl an meinem Beruf. Ich bin Maler und Musiker – und ich bin Pädagoge. Fragen sind für
mich besser als Antworten. Was offen bleibt, kann sich fortsetzen. Was beantwortet ist, scheint abgeschlossen.
Gewissheiten machen träge. Unsicherheiten halten das Lernen im Gange. Was ich nicht
verstehe, ist ja überhaupt das, was mein Interesse weckt. In den Bildern ebenso wie in der Musik.
Solches, was ich durchschaue, wird vorhersehbar und langweilt früher oder später. Es ist ja gerade
das, was ich nicht kapiere, das meine Aufmerksamkeit erhält und aufrecht zu halten vermag.
Ist es nicht in sämtlichen Bereichen so? Wer jemals denkt,
nur als Beispiel, er habe seine Partnerin oder seinen Partner
nun endgültig verstanden, unterliegt entweder einem
argen Irrtum oder ist ein armer Tropf. Dass es ungezählte,
teils auch schmerzhafte offene Fragen gibt, die zu beantworten
kaum möglich scheinen – oder die zu beantworten
jede Generation von Neuem und jeder Mensch persönlich
gefordert ist: Könnte es sich vielleicht sogar als ein Vorteil
erweisen? Wir werden später darauf zurückkommen. Natürlich
haben wir die Aufgabe, Antworten zu suchen. Wer
Kinder hat, weiss das. Sie entlassen uns nicht aus dieser
Pflicht, denn sie stellen uns Eltern solche Fragen, sobald
sie in ihren Horizont rücken.
Wenn Antworten nur Furnier sind,
bemerken Kinder das sofort. Sie durchschauen
uns Erwachsene bestens, sind
geschickte Beobachter, ohne es uns so
ganz spüren zu lassen. Sie blicken wie
aus den Augenwinkeln und vorübergehend denken sie sich
ihren Teil. Irgendwann, darauf ist Verlass, folgt dann die
nächste, noch tiefer schürfende Frage. So ist Leben, wenn
es wächst und weiter gedeiht, und es bleibt ein Glücksfall,
entgegen allen Härten, die wir spüren; je älter wir werden,
desto mehr.
Ja, es mag wirklich mit dem Alter zu tun haben, vielleicht
geht es aber jungen Menschen in Wahrheit auch so:
Ich fühle immer einen Grund, gelinde gesagt, um sowohl
betrübt als auch guter Dinge zu sein. Tatsächlich sehe,
spüre, habe ich permanent einen Anlass zur Verzweiflung
einerseits und zum Glücklichsein anderseits. Die Lasten, das Gute, die Höhen und die Tiefen im Leben sind für
mich mit den Jahren prägnanter geworden. Auf welchem
Feld meiner Emotion verweile ich? Oder ganz anders gefragt:
Was gelingt es mir auszublenden, um denn überhaupt
«leben» zu können?
Der Kunstschaffende in mir neigt schon immer zu den
Tiefen, zu den Abgründen. Künstler sind häufig wie Schatzsucher
in einem Stollen der Seele. Richtig spannend wird
es erst an den dunklen Enden. Wir suchen Intensität und
die hat mit Brüchen zu tun. Ich weiss, das klingt nicht allzu
erlöst, aber es stimmt eben. Die gesamte Filmwelt basiert
darauf. Zumindest der erfolgreiche Teil davon, ob mit oder
ohne Happy End. Wie schwer ist es,
im realen Leben aber solche Brüche zu
überwinden oder «es» mal gut sein zu
lassen? Unsereins beisst sich in Schwächen
und Fehlern fest, an dem einzigen
falsch gespielten Ton, statt sich an all
dem restlichen Wohlklang zu laben. Die Zunge sucht immer
den Zahn, der weh tut.
Als Familienmann möchte ich mir das allerdings so
nicht leisten. Haben meine Kinder nicht einen Anspruch,
ein Recht auf mich als einen, der «präsent» ist? Ich meine
damit nicht Anwesenheit, sondern eine innere Präsenz
– ein lichtes Ansinnen (!). Als Vater möchte ich schliesslich
meine Kinder lehren, dem Leben die besten Seiten
abzugewinnen, Widerständen zu trotzen, ohne Furcht
und mit Vertrauen in ihre Zukunft hineinzuwachsen. Und
wenn sie doch kommt, die Furcht, sie zu überwinden.
Kinder sind sensibel gegenüber Ungerechtigkeiten, Unehrlichkeiten
und faulen Kompromissen. Den unbestechlichen
Blick müssen sie nicht erst erlernen. Vor Kindern
stehen wir bloss. Was sie aber von uns lernen sollen, ist,
den Widersprüchlichkeiten und Unwegbarkeiten zu trotzen,
nicht an ihnen zu verzweifeln, sondern das zu verfolgen,
wovon sie überzeugt sind. Und ihren wunderbaren,
unbestechlichen Blick nicht irgendwann zu verlieren.
Neben ihrem beharrlichen Fragen haben Kinder aber
noch eine ganz andere vorbildliche Eigenschaft. Das ist
nur scheinbar ein Paradox, eigentlich aber etwas Komplementäres
zu ihren vielen Fragen, den beantwortbaren
sowie den vorläufig offenen: Dinge
akzeptieren zu können, d.h. sich etwas
genügen zu lassen, was der Fall ist. Das
ist ein Ausdruck ihres buchstäblichen,
kindlichen Vertrauens. Wenn Jesus ein
solches Kind den Erwachsenen um sich
herum als Beispiel gibt und sagt, wer
das Reich Gottes nicht annehme wie ein Kind, der finde
keinen Zugang, dann, so glaube ich, meint er diese Gestalt
ihres Vertrauens.
Wahrlich, ich sage euch: Wer nicht das Reich Gottes annimmt
wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. (Lukas 18,17)
Das Reich Gottes ist zu gross, um es zu überblicken, und
zu «anders», um es zu verstehen. Unsere Fragen danach
bleiben zum grössten Teil unbeantwortet. Was wir wissen
müssen, das ist uns gesagt. Jesus formuliert die Konstitution
dieses Reiches in der Bergpredigt. Es ist eine der
schönsten Stellen im Neuen Testament, einer der tröstlichsten
Momente, die uns überliefert sind. Beim Lesen der
Passage fällt es uns nicht schwer, den Ort zu imaginieren,
das müde, geschundene, staubbedeckte Volk, sich selbst
unter ihm zu wähnen, Jesus von Weitem zu sehen und ihn
geradezu rufen zu hören: Wie er diese Paradoxien festlegt, eine nach der anderen. Wir lesen sie in Matthäus 5 Vers
für Vers. Schauen wir aber in die Welt, auf alle Verrohung
und die Rückkehr giftiger Ideologien sowie des Totalitären,
dann wird sich jeder fragen: Kann das denn jemals wahr
werden, was Jesus verspricht, zum Beispiel, dass die Sanftmütigen
das Erdreich besitzen? Wir sehen das Gegenteil
durch die komplette Geschichte bis auf den heutigen Tag.
Dem entgegenzuglauben und zu vertrauen, es werde einmal
anders, als es ist, Jesu Wort werde sich durchsetzen,
die Sanftmütigen werden dereinst empfangen, was die Gewalttätigen
besetzen … Wie gelingt uns das?
Jesu Worte hören, der Konstitution
seines Reiches vertrauen, dieses Reich
empfangen wie ein Kind, dazu braucht
es ein grosses «Trotzdem» im erwachsenen
Herzen. Ich denke dabei an eine
meiner liebsten Filmszenen von Woody
Allen. Eine New Yorker Grossfamilie
sitzt zu Tisch und feiert den Schabbat. Die Verwandtschaft
ist offensichtlich sehr verschieden gläubig und teils ganz
unterschiedlicher Meinung. Es entbrennt bald eine leidenschaftliche
Diskussion über die Erfahrungen und Leiden
des 20. Jahrhunderts. Einige Worte des Rabbis rufen den
Protest seiner Schwester hervor, die ihn provozierend
fragt: «Willst du etwa sagen, dass du Gott über die Wahrheit
stellst?» Er, Rabbi Saul, antwortet: «Wenn nötig
werde ich Gott stets gegenüber der Wahrheit bevorzugen.»
Welch ein Satz! Die Frau des Rabbis fügt noch halb erklärend,
halb beschwichtigend hinzu: «Sauls Glaube ist eine
Gabe.»
Mag sein; mir erscheint sein Glaube aber auch wie eine
grosse Liebe. Gott gegenüber der Wahrheit, gegenüber
dem Sichtbefund und allen Erfahrungen zu bevorzugen …
logisch denkenden, aufrichtig wahrheitsliebenden Menschen kommt diese Aussage vielleicht absurd vor, manchen
auch wie blanker Hohn. Aber mich rührt dieser Satz
vom Rabbi, vorbei an jener Instanz in mir, welche gerne
alles verstehen möchte; er rührt mich zutiefst an einer
Stelle, die ich sonst gar nicht so oft spüre. Wie einer jener
in tiefer Schicht verlaufenden Muskeln, an die man so
schwer herankommt, die sich nur mit viel Aufmerksamkeit
und gewisser Übung aktivieren lassen.
Verlass dich auf den HERRN von ganzem Herzen, und verlass
dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an ihn in allen
deinen Wegen, so wird er dich recht führen. (Sprüche 3,5-6)
Fragen und Zweifel, von denen
bereits der Autor dieses Verses aus
den Sprüchen weiss und denen
gegenüber er diesen reifen Ratschlag
bereithält, sind keine Bedrohung.
Es sind meine Verbündeten. Sie
leiten mich nämlich dorthin, mein
Fassungsvermögen und meine Wahrnehmung nicht als
das Mass der Dinge zu erachten, sondern sie dem Höchsten
unterzuordnen. Ich schreibe es mit diesem unmodernen,
meinen eigenen Stolz testenden Verb: unterordnen.
Ich beginne also sozusagen jenen Muskel zu spüren, an
den ich sonst so schwer herankomme. Das Herz ist auch
ein Muskel. Die Haltung vom Rabbi in Allens Film, allem
anderen gegenüber stets Gott zu bevorzugen, ja, sogar
gegenüber dem, was wir Wahrheit nennen, wirkt auf mich
zunächst herausfordernd, dann entwaffnend, schliesslich
einnehmend. Ich merke, es ist auch für mich eine heilsame
Haltung, die ich mit meinem Herzmuskel immer wieder
einnehmen möchte. Franz Jalics schreibt es so: «Gott ist
ein Geheimnis und wir dürfen nur mit grosser Ehrfurcht
über ihn sprechen. Was auch immer wir von Gott denken,
es muss uns klar bleiben, dass wir Gott mit unserem Verstand nie ergründen können. Wir können ihn mit unserem
Denken nie ganz erfassen. Nur die Liebe und die stille
Anbetung erreichen ihn.» So auf Seite 13 in «Der kontemplative
Weg».
Dass die besten Antworten mitunter eher intuitiv als auf
dem Weg der Logik zu finden sind und dass die schiere Annäherung
an eine Antwort genug sein kann, solches ist für
mich in der Arbeit mit Kunstwerken reinste Gewohnheit.
Ich erachte es als einen Teil des Vergnügens im Umgang
mit den Künsten. Und es ist, das liegt auf der Hand, eine
ergiebige Übung auch für den Umgang mit ganz anderen
Dingen. Wenn wir die Unklarheiten
und Leerstellen einerseits anzuschauen
wagen, ja, uns gewisse Fragen
immer wieder zu stellen trauen, und
zugleich doch sagen können: «Gott
… Du allein bist Gott, und ich bin es
nicht. Gott … Du weisst alles, und das
soll mir genügen», dann gelangen wir an eine Art Wegkreuzung,
in der sich ganz vorsichtig das Kontemplative
anbietet, ein Weg in die christliche Mystik. Mögen wir vor
dem doch nicht zurückweichen, stattdessen lieber sämtliche
Klischees beiseite tun, die wir mit dieser Bezeichnung
verbinden, und uns – sowie einander – diesen Weg zutrauen.
Mir scheint, er sei konsequent.